L. Clemens u. a. (Hrsg.): Formen der Armenfürsorge

Titel
Formen der Armenfürsorge in hoch- und spätmittelalterlichen Zentren nördlich und südlich der Alpen.


Herausgeber
Clemens, Lukas; Alfred, Haverkamp; Romy, Kunert
Reihe
Trierer Historische Forschungen 66
Erschienen
Trier 2011: Kliomedia
Anzahl Seiten
334 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Stefan Sonderegger, St. Gallen

Der Sammelband vereinigt die Beiträge einer gleichnamigen Tagung, die im November 2007 in Trier stattfand. Die Publikation knüpft an die Ergebnisse jüngerer Tagungen zum Armen- und Hospitalwesen an, setzt aber andere Schwerpunkte, indem nebst sozial- und rechtsgeschichtlichen stark individuelle Aspekte von Hilfeleistungen diskutiert werden. Der untersuchte Zeitraum reicht vom Hochmittelalter bis in die Frühe Neuzeit. Hervorzuheben ist der interdisziplinäre – historisch und kunsthistorisch – und geographisch – süd- und nordalpine Regionen – weit gefasste Ansatz.

Cristina Andenna untersucht Hospitäler der norditalienischen Regularkanoniker im 12. und 13. Jahrhundert. Sie kommt zum Schluss, «dass sich die Entwicklung der Armenfürsorge bei den Regularkanonikern grundsätzlich nicht von der Entstehung und Entfaltung der Fürsorgeaktivitäten anderer kirchlicher oder laikaler Institutionen unterschied» (S. 36). Im norditalienischen wie im nordalpinen Bereich sei im Übergang zum Spätmittelalter eine aktivere Teilnahme breiter sozialer Schichten an der Hospitalfürsorge zu erkennen. Diese Ansicht teilen übrigens die meisten der Autoren und Autorinnen des Sammelbandes.

Die Vielfalt der Armenfürsorge wird in den Beiträgen von Ivo Musajo Somma und Romy Kunert eindrücklich geschildert. Am Beispiel des in Piacenza gelegenen bischöflichen Spitals Santo Stefano zeigt Musajo Somma die Entwicklung im 13. Jahrhundert. Neben der Klerikergemeinschaft etablierte sich ein Zusammenschluss von «laici religiosi», die Hospitaldienste verrichteten, ohne ihr weltliches Leben aufzugeben. Gläubige Laien hingegen, die ihre weltliche Identität vollständig bewahren wollten, griffen zum Mittel der Vermächtnisse zugunsten von Fürsorgeeinrichtungen. Musajo Somma sieht darin eine Entwicklung in der Auffassung von Armut und Caritas hin zu immer direkteren Formen der Fürsorge durch Laien (S. 49). Romy Kunert behandelt in ihrem Beitrag die private Armenfürsorge vom ausgehenden 13. bis zur ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts in Genua. Die bislang unbekannten Dokumente zeigen, dass auch unkonventionelle Wege der Hilfe eingeschlagen wurden. Die Vergabe der Almosen bzw. die Auswahl der Empfänger geschah keineswegs willkürlich. Vermögende stärkten bzw. vergrösserten dadurch ihre Klientel.

Ulrike Ritzerfeld behandelt das Thema aus kunstgeschichtlicher Perspektive, indem sie das Bildprogramm der Misericordia in Bergamo im gesellschaftlichen und politischen Wandel des Spätmittelalters untersucht. Sie bemängelt zu Recht, Bildprogramme mildtätiger Bruderschaften würden gerne als visuellen Beleg für eine reale Wohltätigkeitspraxis angesehen. Oft bleibe aber eine Hinterfragung des Realitätsgehalts von Bildern aus. In einem gewissen Sinne dienten die Bilder der Propaganda. Bruderschaften dienten sie dem Bedürfnis nach Ansehen und Legitimierung ihrer Tätigkeit.

Dass in verschiedenen Beiträgen unter starker Berücksichtigung der Quellenkritik das private Engagement thematisiert wird, macht den Band besonders lesenswert. Unter dem Titel «Barmherzige Werke, kaufmännisches Kalkül und freiwillige Armut. Bildprogramme in Prato zwischen 1345 und 1415» untersucht Philine Helas die Armen- und Krankenfürsorge. Unter anderem wird auch der berühmte Kaufmann Francesco Datini behandelt. Als Quellen dienen der Autorin nicht Schriften, sondern Bilder. Zur Rettung seines Seelenheils hatte Datini eine Stiftung für Arme eingerichtet. Am Gebäude wurde ein Bilderzyklus angebracht, der – ähnlich einer Heiligenvita – das Leben des Prateser Bürgers und seine wohltätigen Werke zeigt. Die Autorin liefert eine überzeugende Erklärung für den Zusammenhang des Bildprogramms: Die prominente Darstellung dieser überragenden Kaufmannspersönlichkeit sei vor dem Hintergrund der fiorentinischen Herrschaft über Prato zu sehen: «Die kleine Kommune musste mit überragenden Figuren aufwarten, um sich gegen das übermächtige Florenz eine eigene städtische Identität zu schaffen» (S. 161).

In seinem geographisch weit abgesteckten Beitrag von Assisi über Rom nach Strassburg setzt sich Thomas Frank kritisch mit dem Bruderschaftsbegriff auseinander. Mit seinen Beispielen zeigt er, dass die Beziehungen zwischen spätmittelalterlichen Bruderschaften und Hospitälern komplexer waren, als es in der Historiographie gebräuchliche Begriffe wie Gründung, Trägerschaft oder Verwaltung zum Ausdruck bringen. Das Tätigkeitsspektrum der Bruderschaften reichte von externen Hilfsdiensten im Hospital bis zur unumschränkten Macht über eine Institution, von der Hospitalbetreuung als einer von vielen Aufgaben bis zur funktionalen Verknüpfung von Bruderschaft und Spital.

Benjamin Laquas Beitrag zu den Heiliggeist-Spitälern im bruderschaftlichen und kommunalen Kontext des hohen Mittelalters konzentriert sich auf den Nordwesten des Reichs. Auf Seite 187 findet sich eine Karte der Heiliggeist-Spitäler bis ca. 1300. Auch wenn sie kaum den abschliessenden Stand darstellt – entsprechende Forschungen zu Kleinstädten fehlen noch weitgehend –, ist daraus ersichtlich, dass in kaum einer mittleren und grösseren Stadt ein Heiliggeist-Spital fehlte. Auffallend ist eine Konzentration im Bodenseegebiet; ob dies die realen Verhältnisse oder den regional guten Forschungsstand wiedergibt, muss offenbleiben. Sein thematisch breiter Forschungsansatz führt den Autor zu Recht zum Schluss, in Übereinstimmung mit der neueren Hospitalforschung in den Spitälern multifunktionale Institutionen zu sehen. Nicht nur Untersuchungen zu deutschen, sondern auch zu Schweizer – im Gegensatz zu vielen Kollegen und Kolleginnen wirft Laqua einen Blick in die Schweizer Forschung – und Österreicher Spitälern zeigen das Ineinandergreifen sozioökonomischer, politischer und religiöser Einflussfaktoren im Umfeld von Hospitälern und deren Gemeinschaften (S. 210).

Monika Escher-Apsner widmet ihren Beitrag der weiblichen Fürsorge und Seelsorge im Kontext nordalpiner und spätmittelalterlicher Städte. Die Einbindung von Frauen in die Armen- und Krankenpflege war vielfältig und angesichts des Bevölkerungswachstums im Übergang vom Hoch- zum Spätmittelalter notwendig. In den Zentren habe die reale Armut spätestens seit dem 13. Jahrhundert eine Herausforderung dargestellt, für die die bisherigen Formen der Fürsorge unzureichend gewesen seien. Die Autorin kommt zum Schluss, dass die Möglichkeiten weiblicher Beteiligung an der Armenfürsorge vielfältig und gleichzeitig räumlich höchst uneinheitlich waren.

Sebastian Zwies macht eine Tiefenbohrung, indem er die Reichsstadt Esslingen untersucht. Zwies richtet ein besonderes Augenmerk auf die Almosen einzelner Personen oder von Familien in der Frühen Neuzeit. Besonders interessant sind seine Ausführungen zu einer Art von Inszenierung von Hilfe. Die Almosengeber wählten oft sakrale Orte wie Kirchen und Kapellen oder auch Hospitäler und öffentliche Plätze, an denen sie ihre Almosenausgaben vollzogen. Dies diente der sozialen Reputation und der religiösen Heilsgewissheit. Mit dieser privat organisierten Fürsorge wurden inmitten des öffentlichen Raumes konkurrierende private Nebenöffentlichkeiten geschaffen.

Sven Rabelers Beitrag befasst sich mit den Lübecker «Tollkisten» im späten Mittelalter. Auch wenn der Umgang mit psychisch Kranken in der Vormoderne nicht in sonderlich gutem Ruf stehe, hätten insbesondere jüngere Forschungen gezeigt, dass Mittelalter und Frühe Neuzeit keineswegs allein Vernachlässigung und Grausamkeit kannten (S. 280). Rabeler fragt aus dem Blickwinkel der städtischen Ordnung und Armenfürsorge nach Konzepten für den Umgang mit «Unsinnigen». Aus Testamenten von Bürgern ist zu ersehen, dass die Versorgung der Insassen in Tollkisten zunehmend als karitative Aufgabe verstanden wurde.

Der Konfessionalisierung der Armenfürsorge widmet sich Sebastian Schmidt. Er fragt nach einem Wandel der Armenfürsorge in den geistlichen Kurstaaten, und in diesem Zusammenhang vergleicht er katholische und protestantische Zugänge zur Armenfürsorge.

Besonders lesenswert macht den Band, dass die Vielfalt der Formen der Armenfürsorge aufgezeigt wird. Die starke Berücksichtigung des privaten karitativen Engagements erschliesst sowohl in Bezug auf bislang zu wenig berücksichtigte Quellen als auch methodisch Neuland.

Zitierweise:
Stefan Sonderegger: Rezension zu: Lukas Clemens, Alfred Haverkamp, Romy Kunert (Hg.): Formen der Armenfürsorge in hoch- und spätmittelalterlichen Zentren nördlich und südlich der Alpen. Trier, Kliomedia, 2011. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 63 Nr. 2, 2013, S.316- 318.

Redaktion
Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 63 Nr. 2, 2013, S.316- 318.

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